M. Droppa, T. Geisler
Kurzfassung: Cangrelor ist ein selektiver reversibler
P2Y12-Rezeptor-Inhibitor mit einer sehr
kurzen Halbwertszeit unter kontinuierlicher
intravenöser Applikation. In mehreren großen
randomisierten Studien wurde gezeigt, dass
Cangrelor bei nicht vorbehandelten Patienten
die ischämischen Ereignisse im Vergleich zur
Therapie mit Clopidogrel reduziert. Es gibt keine
randomisierten Studien bei Patienten mit akutem
Koronarsyndrom (ACS) und neuen P2Y12-
Rezeptor-Inhibitoren Prasugrel und Ticagrelor,
die pharmakologischen Studien zeigen eine
bessere Plättcheninhibition unter Cangrelor.
Nach aktueller Studienlage ist es sinnvoll,
Cangrelor bei nicht vorbehandelten stabilen
Patienten, die sich einer Hochrisiko-PCI unterziehen,
anzuwenden.
Patienten mit ACS, insbesondere ST-Hebungsinfarkt,
die ein erhöhtes Risiko für rekurrente
atherothrombotische Ereignisse haben,
werden den größten Nutzen haben, insbesondere
wenn eine effektive, zeitgerechte Plättchenhemmung
durch orale Plättchenhemmer
nicht gewährleistet werden kann. Klinische
„real-world“ Register zeigen, dass Patienten
mit ACS – vor allem STEMI – im Gegensatz zu
den randomisierten Studien derzeit die häufigste
Behandlungsgruppe für Cangrelor darstellen.
Eine besondere Gruppe, die von Cangrelor
profitieren kann, stellen die hämodynamisch instabilen
Patienten mit kardiogenem Schock dar,
bei denen zusätzlich die orale P2Y12-Rezeptor-
Gabe durch Intubation erschwert wird. Weitere
Indikation ist das Bridging bei notwendiger
Pausierung der oralen P2Y12-Rezeptor-Inhibitoren
bei einem dringlichen operativen Eingriff,
hier besteht der Vorteil einer besseren
Steuerbarkeit durch die kurze Halbwertszeit
im Vergleich zu Glykoprotein IIb/IIIa-Inhibitoren.
Bei ausgewählten Patienten mit erhöhtem
Blutungsrisiko kann Cangrelor „off-label“ eingesetzt
werden, um die Plättchenhemmung im
Fall einer Blutung besser zu steuern.
Schlüsselwörter: Cangrelor, P2Y12-Rezeptor-Inhibitor,
stabile Angina pectoris, akutes Koronarsyndrom,
kardiogener Schock
Abstract: Cangrelor – Indication 2019. Cangrelor
is selective reversible P2Y12-receptor inhibitor
with very short plasmatic half-life, administrated
as a continuous intravenous infusion. In
large randomized clinical trials was shown, that
in P2Y12-receptor inhibitor naïve patients cangrelor
reduces ischemic events in comparison
to clopidogrel. There are no randomized studies
comparing cangrelor with new P2Y12-receptor
inhibitors (prasugrel and ticagrelor) in patients
with acute coronary syndromes (ACS), however
pharmacological studies show better platelet
inhibition with cangrelor. According to current
evidence, cangrelor should be considered
in the therapy in patients not pretreated with oral
P2Y12-receptor inhibitors. In patients with stable
angina pectoris, the highest net clinical benefit
would have patients undergoing complex highrisk
procedures.
Patients with ACS, especially ST-elevation
myocardial infarction (STEMI) who have highrisk
for recurrent atherothrombotic events,
should also profit from cangrelor therapy, especially
in cases of difficult administration of oral
medication. According to current real-world
register studies, most of cangrelor treated patients
are presenting with ACS especially STEMI
in contrast to randomized studies. Patients in
cardiogenic shock with difficult oral administration
of drugs due to mechanical ventilation
could also profit from cangrelor therapy. Further
possible indication of cangrelor is bridging
in high-risk patients requiring discontinuation
of oral P2Y12-receptor inhibitors due to surgery.
The advantage of cangrelor is shorter half-life
in comparison to Glycoprotein IIb/IIIa-inhibitors.
As off-label therapy, cangrelor can be considered
in selected patients with high bleeding risk,
to allow postponing of oral platelet inhibition
and better guidance of the antiplatelet therapy.
Keywords: Cangrelor, P2Y12-receptor inhibitor,
stable angina pectoris, acute coronary syndrome,
cardiogenic shock
Pharmakodynamik und Pharmakokinetik von Cangrelor
Cangrelor ist ein direkter reversibler P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitor,
der die ADP-induzierte Thrombozytenaggregation hemmt.
Nach der intravenösen Gabe tritt die Wirkung praktisch sofort
ein. Cangrelor wird durch eine plasmatische Dephosphorylation
unabhängig von Leberenzymen schnell inaktiviert. Die
plasmatische Halbwertszeit beträgt nur 3–6 Minuten, weshalb
sich innerhalb von einer Stunde nach Absetzen die Thrombozytenfunktion
vollständig erholt [1]. Cangrelor wird mit einem
Bolus von 30 μg pro Kg Körpergewicht und nachfolgender
kontinuierlicher Infusion von 4 μg/Kg KG über mindestens 2
Stunden verabreicht.
Studienlage
Cangrelor wurde in 3 großen randomisierten Studien, den
CHAMPION-Studien, im Vergleich zu Clopidogrel getestet.
Insgesamt fast 25.000 Patienten, die nicht mit einem oralen
P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitor behandelt waren, wurden in der
CHAMPION-PLATFORM- [2], der CHAMPION-PCI- [3] und
der CHAMPION-PHOENIX-Studie [4]
auf eine periinterventionelle Behandlung
mit Cangrelor randomisiert. Es wurden
sowohl stabile Patienten mit elektiver PCI
als auch Patienten mit akuten Koronarsyndromen
(ACS) eingeschlossen. Es gab
geringe Designunterschiede in Bezug auf
den Zeitpunkt des Clopidogrel-Loadings
und die Endpunktdefinition (Abb. 1). In
der gepoolten Analyse zeigte sich eine
Reduktion des kombinierten Endpunktes
(Tod, Myokardinfarkt, einer ischämisch
getriggerten Revaskularisation und
Stentthombose innerhalb von 48 Stunden
nach PCI; 3,8 % vs. 4,7 % für Cangrelor
und Kontrollgruppe, p = 0,0007) sowie
den einzelnen Endpunkten innerhalb
der 48 Stunden in der Cangrelor-Gruppe
(Abb. 2). Die nach GUSTO definierten
leichten Blutungsereignisse traten öfter in
der Cangrelor-Gruppe auf (16,8 vs. 13 %,
p < 0,001), es gab keinen Unterschied
bezüglich schwerer und mittelschwerer
Blutungen (0,8 vs. 0,6 %, p = 0,08).
Es gibt keine randomisierten Studien zum direkten Vergleich
von Cangrelor mit neuen P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitoren
Ticagrelor
und Prasugrel. Eine Meta-Analyse zeigte in einem
indirekten Vergleich ähnliche Effekte von Cangrelor und neuen
P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitoren auf klinische Endpunkte [6].
Pharmakologische Studien zeigten jedoch eine bessere periinterventionelle
Plättcheninhibition bei der Behandlung mit
Cangrelor bei nicht-vorbehandelten Patienten [7, 8].
Durch die gute Plättcheninhibition kann man vermuten, dass
Hochrisikopatienten besonders von der Therapie profitieren.
Insbesondere Patienten mit kardiogenem Schock und kardiopulmonaler
Reanimation, die durch die maschinelle Beatmung
nicht vorbehandelt werden und bei denen eine orale Applikation
der Medikation erschwert ist, profitieren von der intravenösen
Gabe. In den retrospektiven Analysen konnte eine
gute Effektivität von Cangrelor bei Patienten mit kardiogenem
Schock nachgewiesen werden [9, 10]. In einem skandinavischen
„real-world“-Register zeigten Hochrisikopatienten mit
STEMI und teilweise kardiopulmonaler Reanimation
seine
sehr niedrige Inzidenz von Stentthrombosen unter Cangrelor
[11].
Bridging mit Cangrelor bei Patienten mit geplantem herzchirurgischen
Eingriff und Pausieren von P2Y₁₂-Rezeptor-
Inhibitoren wurde in der BRIDGE-Studie untersucht. 210
Patienten wurden entweder zum Bridging mit Cangrelor oder
Placebo randomisiert. Es konnte mit einer Dosis von 0,75 μg/
kg/min eine signifikant bessere Plättcheninhibition in der
Cangrelorgruppe ohne Anstieg von Blutungen gezeigt werden.
Klinische Praxis (Tab. 1)
Stabile Angina pectoris
Wie oben beschrieben, wurde Cangrelor im Rahmen von randomisierten
Studien bei Patienten mit elektiver PCI getestet
und konnte eine Reduktion der ischämischen Ereignisse in den
48 Stunden nach PCI zeigen. In dieser Indikation werden die
Patienten mit Clopidogrel behandelt, was auch dem Design der
CHAMPION-Studien entspricht. Clopidogrel ist durch eine
große interindividuelle Variabilität des Wirkeintritts sowie der
Wirkung der Plättcheninhibition gekennzeichnet. Somit kann
bei nicht vorbehandelten Patienten die Zeit bis zum maximalen
Wirkungseintritt von Clopidogrel durch Cangrelor überbrückt
werden. Bei einfachen Interventionen ist jedoch das
Risiko eines akuten ischämischen Ereignisses sehr gering, was
den Nutzen von Cangrelor in dieser Gruppe niedrig hält. Vielmehr
kann Cangrelor bei Patienten mit komplexen Koronarinterventionen
(Hauptstamm, Bifurkationen, Mehrgefäß-PCI)
einen Vorteil bringen [12]. Bei diesen Patienten wäre auch das
Gesamtrisiko durch ein potentiell ischämisches Ereignis, z. B.
Stentthrombose, hoch.
Akutes Koronarsyndrom Aktuell gibt es keine randomisierten Studien zum Vergleich
von Cangrelor und neuen P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitoren
(Prasugrel
und Ticagrelor), die laut aktuellen Leitlinien bei
ACS präferiert werden [13]. Patienten mit ACS haben ein
deutlich erhöhtes Risiko im Vergleich zu jenen mit stabiler
Angina pectoris, sodass der erwartete klinische Benefit einer
zuverlässigen periinterventionellen Plättcheninhibition höher
sein sollte. Tatsächlich zeigte sich in den pharmakodynamischen
Studien eine bessere Plättchenhemmung unter Cangrelor
im Vergleich zur Prasugrel und Ticagrelor. Vor allem
Patienten mit STEMI, bei denen im Vorfeld kein Loading erfolgte
und die eine insgesamt hohe Thrombozytenaktivierung
aufweisen, können von Cangrelor profitieren. Auch besteht
beim STEMI unter Cangrelor kein verzögerter Wirkungseintritt,
was gerade unter oralen P2Y₁₂-Rezeptorantagonisten,
wie in pharmakodynamischen Studien gezeigt wurde, der Fall
ist [14, 15]. Ein möglicher Grund hierfür ist eine verzögerte
Absorption durch eine gestörte gastrointestinale Motilität und
verlangsamten Metabolismus durch die Gabe von Opioiden
und durch die zentralisierte und instabile Kreislaufsituation
[16, 17].
Cangrelor zeigte sich auch durchaus vorteilshaft im Vergleich
zu Glykoprotein (GP) IIb/IIIa-Inhibitoren. Das betrifft
auch jene Patienten, die eine „bailout“-Gabe von GPIIb/IIIa-Inhibitoren
während der PCI erhalten, wie die Subanalysen
der CHAMPION-
Studien belegen [18]. Eine höhere Rate von
Immunthrombozytopenien
wurde zudem unter von GPIIb/
IIIa-Inhibitor-Gabe im Gegensatz zu Cangrelor beobachtet
[19].
Kardiogener Schock
Die Mortalität bei Patienten mit einem kardiogenen Schock
bleibt trotz früher Revaskularisation mit fast 50 % sehr hoch.
Der kardiogene Schock führt zu einem deutlich höheren Risiko
für Stentthrombosen, die die Prognose weiter verschlechtern
[20]. Neben der Wichtigkeit einer schnellen und effektiven
Plättcheninhibition spielt hier auch die Verabreichungsform
der Therapie eine wichtige Rolle. Die Patienten wurden im
Vorfeld oft kardiopulmonal reanimiert und intubiert, sodass
die akute orale Applikation von Medikamenten unmöglich ist.
Hier zeigt Cangrelor einen klaren Vorteil durch einfache intravenöse
Gabe und somit sofortiger Wirkung. Aktuelle retrospektive
Studien und „real-world“-Register unterstützen den
Nutzen von Cangrelor bei diesen Hochrisikopatienten [9–11].
Bridging bei geplanten nichtkardiologischen
Operationen
oder vor Bypass-Op
Cangrelor mit seiner sehr kurzen Halbwertszeit (3–6 Minuten)
ist ein guter Kandidat für das perioperative Bridging bei Patienten
mit implantierten Stents, die sich einem operativen Eingriff
unterziehen und eine Pausierung der oralen P2Y₁₂-Inhibitoren
benötigen. In der Vergangenheit wurde ein Bridging
oft mit
GPI durchgeführt, selbst kurzwirksame GPIIb/
IIIa-Antagonisten
(Epitifibatid, Tirofiban) haben jedoch eine deutlich
längere und von der Nierenfunktion abhängige plasmatische
Wirkung (2–4 Stunden), sodass die präzise Planung des perioperativen
Settings schwieriger ist. Trotz der o. g. BRIDGEStudie
besteht keine offizielle Zulassung für diese Indikation,
der Einsatz für GPIIb/IIIa-Antagonisten für diese Indikation
ist jedoch daher „off-label“.
Blutungsrisiko
Eine Herausforderung stellt nach wie vor die Behandlung
von Patienten dar, bei denen wegen des hohen Blutungsrisikos
ein Loading mit langwirksamen oralen P2Y₁₂-Rezeptor-
Inhibitoren sofort nach der PCI problematisch scheint. Hierzu
gehören zum Beispiel Patienten mit Traumata, Patienten unter
perkutaner Kreislaufunterstützung oder Patienten, die in der
perioperativen Phase einen Myokardinfarkt entwickeln. Obwohl
die Cangrelorgabe in den CHAMPION-Studien mit
erhöhtem Risiko von GUSTO definierten milden Blutungen
assoziiert waren, gab es keinen Unterschied hinsichtlich schwerer
und moderater Blutungen [5]. Durch die günstige Pharmakokinetik
mit einer sehr kurzen Halbwertszeit bietet Cangrelor
eine gute Option, im Falle einer Blutung die antithrombozytäre
Therapie schnell zu pausieren. Diese Option bleibt bei nach
Fachinformation bestehender Kontraindikation bei Patienten
mit erhöhtem Blutungsrisiko eine „off-label“-Therapie und
kann daher nur als „bailout“-Behandlung bei streng selektierten
Patienten in Erwägung gezogen werden. Bis dato gibt es
vereinzelte Berichte mit erfolgreichem Management von solchen
Patienten [9, 21].
Zusammenfassung
Cangrelor ist ein selektiver reversibler P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitor
mit einer sehr kurzen Halbwertszeit unter kontinuierlicher
intravenöser
Applikation. In mehreren großen randomisierten
Studien wurde gezeigt, dass Cangrelor bei nicht vorbehandelten
Patienten ischämische Ereignisse im Vergleich zur Therapie
mit Clopidogrel reduziert. Es gibt keine randomisierten Studien
bei Patienten mit ACS und den neuen P2Y₁₂-Rezeptor-
Inhibitoren Prasugrel und Ticagrelor, die pharmakologischen
Studien zeigen eine bessere Plättcheninhibition unter Cangrelor.
Nach aktueller Studienlage ist es sinnvoll, Cangrelor bei
nicht vorbehandelten stabilen Patienten, die sich einer Hochrisiko-
PCI unterziehen, anzuwenden. Patienten mit ACS – insbesondere
ST-Hebungsinfarkt –, die ein erhöhtes Risiko für
rekurrente atherothrombotische Ereignisse haben, werden den
größten Nutzen haben, insbesondere dann, wenn eine effektive,
zeitgerechte Plättchenhemmung durch orale Plättchenhemmer
nicht gewährleistet werden kann. Klinische „real-world“-
Register zeigen, dass Patienten mit ACS, vor allem STEMI, im
Gegensatz zu den randomisierten Studien derzeit die häufigste
Behandlungsgruppe für Cangrelor darstellt [11, 22]. Klinische
Outcome-Studien im Vergleich zu 3. Generation von P2Y₁₂-
Inhibitoren (Prasugrel, Ticagrelor) fehlen derzeit allerdings.
Eine besondere Gruppe stellen die hämodynamisch instabilen
Patienten mit kardiogenem Schock dar, bei denen zusätzlich
die orale P2Y₁₂-Rezeptorgabe durch Intubation erschwert wird.
Weitere Indikation ist das Bridging
bei notwendiger Pausierung
der oralen P2Y₁₂-Rezeptor-Inhibitoren bei einem dringlichen
operativen Eingriff, hier besteht der Vorteil einer besseren
Steuerbarkeit durch die kurze Halbwertzeit im Vergleich zu
GPI. Bei ausgewählten Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko
kann Cangrelor „off-label“ eingesetzt werden, um die Plättchenhemmung
im Fall einer Blutung besser zu steuern [9].
Interessenkonflikte
MD: kein Interessenkonflikt
TG: Honorare im Rahmen von Vorträgen und Teilnahme
an Beratungsgremien von Chiesi, Ferrer, Astra Zeneca und
Daiichi
Sankyo.
Literatur: beim Verfasser
Herausgeber/Chefredaktion:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Kurt Huber, 3. Medizinische Abteilung mit Kardiologie und Erstversorgung, Wilhelminenspital der Stadt
Wien, A-1160 Wien, Montleartstraße 37.